E-Commerce neu gedacht: 10 digitale Trends aus Asien (Teil 1)
In Sachen Innovationskraft im E-Commerce zeigen viele asiatische Länder den westlichen Industrienationen, wo es langgeht. Allen voran gehört China aufgrund der Marktgröße und der zahlreichen innovativen Ansätzen inzwischen zu den attraktivsten E-Commerce-Märkten der Welt: Mit geschätzten 672 Milliarden US-Dollar generiert das Land weltweit die höchsten Umsätze im Onlinehandel. Die USA liegen mit Umsätzen von rund 340 Milliarden US-Dollar weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Laut einer Marktprognose von Statista sind die E-Commerce-Umsätze für China sogar noch höher (1,52 Billionen US-Dollar im Jahr 2018) und sollen bis 2023 auf 4,096 Billionen US-Dollar ansteigen.
Was macht die Digitalisierung in Asien so erfolgreich? Und was können westliche Unternehmen davon lernen? Diesen Fragen gehen wir in unserem Blog in den nächsten Wochen in auf den Grund.
Fokus und Skalierbarkeit vs. Agilität und Innovationskraft
Westliche Unternehmen haben irgendwann Ende der neunziger Jahre gelernt, wie Onlineshopping funktioniert – und seitdem hat sich im Grunde nicht viel verändert. Ob in klassischen Onlineshops oder auf Marktplätzen wie Amazon – die Kund:innen klicken sich durch die immer gleichen Produktlisten mit Fotos, Beschreibungen, Preisen, Lieferkonditionen und ggf. Kundenbewertungen.
Björn Ognibeni, Unternehmensberater mit Fokus auf digitale Transformation und Asien, beschreibt die westliche Arbeitsweise in seinem Handelsblatt-Gastbeitrag “Alibaba erfindet sich immer wieder neu, wo Amazon keine Ideen hat” sehr treffend:
“Die Gestaltung der Internetshops erinnert dabei ein wenig an die Gestaltung von Pkws. Wo sich alle an den gleichen Zielgrößen orientieren, kommen alle zu den gleichen Lösungen. Und wo Firmen und Kunden erstmal verstanden haben, wie etwas geht, vergisst man irgendwann, dass es vielleicht auch anders gehen könnte.”
Westiche Geschäftsmodelle basieren demnach größtenteils darauf, sich auf ein Problem zu fokussieren, es zu lösen und diese Lösung immer weiter zu skalieren. Die Lösung selbst wird also kontinuierlich optimiert, aber nicht mehr zugunsten ganz neuer Ideen und Lösungswege hinterfragt.
Das wirtschaftliche Wachstum in China und anderen asiatischen Ländern hingegen ist geprägt von ständiger Veränderung, Agilität und Innovationskraft. Es wird sich weniger auf ein einzelnes Problem fokussiert, sondern in komplexen Netzwerken und Systemen gedacht. Die Asiaten setzen sich dabei Visionen mit langer Perspektive und setzen diese dann agil in die Tat um.
Daraus sind zahlreiche innovative Ansätze entstanden, die den E-Commerce ganz neu denken und das digitale Wachstum in China mit immer höherer Geschwindigkeit voranschreiten lassen. Gleichzeitig ist der asiatische Handelsmarkt extrem dynamisch und es herrscht ein starker Wettbewerb zwischen verschiedenen Tech-Unternehmen, was die Innovationskraft noch weiter beschleunigt.
Ein Indikator für die hohe Dynamik in der chinesischen E-Commerce-Industrie ist die sich schnell verändernde Marktverteilung: So ist der Marktanteil von Alibaba (u.a. Betreiber von Tmall, Chinas erfolgreichstem B2C-Marktplatz) inzwischen von 81 % auf 55 % gesunken, während Unternehmen wie JingDong (mit dem Marktplatz JD.com), Meituan und Pin Duoduo auf den Markt drängen (Quelle: “The online boom ‒ The future of global e-commerce”, The Economist, 02.01.2021).
In diesem und in einem unserer nächsten Blog-Beiträge stellen wir Ihnen 10 E-Commerce-Trends aus Asien vor, die dabei sind, den digitalen Handel zu revolutionieren.
Trend 1: New Retail – Die optimale Integration aller Vertriebskanäle
Erfinder des “New-Retail”-Konzeptes ist Jack Ma, Gründer von Alibaba, der inzwischen größten Onlinehandels-Gruppe der Welt. Sein Ziel war es, Online, Offline, Logistik und Technologie in einer einzigen Wertschöpfungskette optimal miteinander zu verknüpfen und dadurch eine Win-win-win-Situation für alle Beteiligten zu kreieren.
In der Vision von Jack Ma herrscht im Einzelhandel der Zukunft keine Konkurrenz mehr zwischen Onlinehandel und stationären Geschäften. Vielmehr sollen der Offline-POS, E-Commerce, digitale Technologien und innovative Logistikkonzepte nahtlos ineinander verschmelzen, sodass ein kanalübergreifendes Gesamt-Einkaufserlebnis entsteht.
Alibaba ist schon längst kein reiner Onlinehändler mehr und gilt als Paradebeispiel für digitales Wachstum. Seit der Gründung im Jahr 1999 hat das Unternehmen ein umfassendes Ökosytsem aus aufeinander abgestimmten Produkten und Dienstleistungen entwickelt. Dazu gehört auch die Supermarktkette Hema, heute Freshippo, mit der Alibaba das New-Retail-Konzept bereits in die Tat umsetzt und stetig weiterentwickelt.
Die Kund:innen können bei Freshippo an automatisierten Kassen per Gesichtserkennung bezahlen, sich von einem elektrischen Einkaufswagen begleiten lassen und per QR-Code alle Informationen zum jeweiligen Produkt erhalten. Wer in einem Umkreis von fünf Kilometern vom nächsten Freshippo-Supermarkt wohnt, kann sich die Waren online bestellen und innerhalb von 30 Minuten nach Hause liefern lassen.
Trend 2: Multi-Service-Plattformen ‒ Vernetzte Systeme mit umfangreichen Funktionen
Während es im Westen noch klare Platzhirsche für die unterschiedlichen digitalen Dienste gibt ‒ Facebook (mit den dazugehörigen Instagram und WhatsApp) für Social Media und Messaging, PayPal für Online-Zahlungen, Amazon als Marktplatz usw. ‒ so sind diese Grenzen in asiatischen Ländern längst verschwunden. Die erfolgreichsten digitalen Unternehmen in Asien haben heute sämtliche Produkte und Dienstleistungen im Portfolio und lassen diese über die unterschiedlichsten Kanäle miteinander verschmelzen.
Asiatische E-Commerce-Plattformen bieten nicht mehr nur reines Online-Shopping, sondern vermarkten ein Gesamtpaket, bestehend aus verschiedenen Services wie Online-Bezahlung, Social Media, Gaming, Messaging-Diensten, Videos und Live-Streaming.
Diese Multi-Service-Plattformen decken sämtliche Bedürfnisse der Nutzer:innen ab. So erzielt das chinesische Unternehmen Meituan beispielsweise den Großteil seines Umsatzes nicht mehr mit seiner eigentlichen Kerndienstleistung ‒ nämlich dem Vertrieb von Gruppenrabatt-Angeboten ‒ sondern mit einer großen Palette zusätzlicher Anwendungsdienste, darunter Hotel- und Reisebuchungen, Kinokartenverkauf, Carsharing-Dienste und Lebensmittellieferungen.
Trend 3: Mobile-Only Internet ‒ Wenn Super-Apps das Web ersetzen
Die Verwendung mobiler Endgeräte im E-Commerce gewinnt seit einigen Jahren zunehmend an Bedeutung: In den USA liegt der Anteil mobiler User derzeit bei 43 %. Doch auch bei diesem Trend liegen die asiatischen Länder vorn: Rund 90 % der Chinesen nutzen ihr Smartphone fürs Online-Shopping (Quelle: “The future of e-commerce ‒ The great mall of China”, The Economist, 02.01.2021). Der oben geschilderte Trend zu Multi-Service-Anbietern findet sich deshalb mehr und mehr in sogenannten “Super-Apps” wieder, die die klassischen Websites ersetzen.
Das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die chinesische Multifunktions-App WeChat des Internetkonzerns Tencent. Während die Europäer und Amerikaner Instagram, WhatsApp und YouTube als einzelne Applikationen nutzen, vereint WeChat sämtliche Vorzüge sozialer Medien miteinander. Neben Instant-Messaging-Funktionen können User der App auch Spiele spielen, Taxis, Lebensmittel und Essen bestellen, Arzttermine buchen, Rechnungen bezahlen u.v.m. Darüber hinaus können die Nutzer:innen die Dienstleistungen direkt innerhalb der App mit dem integrierten mobilen Zahlungs-System WeChat Pay bezahlen und untereinander Geld versenden.
Aufgrund der weiten Verbreitung und des großen Funktionsumfanges ist WeChat für die Chinesen zum Zentrum ihrer Online-Aktivitäten geworden. Und für chinesische Unternehmen ist es mittlerweile üblicher, ein WeChat-Profil anzulegen, als eine eigene Website zu erstellen. Das klassische World Wide Web tritt in China also mehr und mehr hinter den mobilen Apps zurück.
Auch in Südostasien sind mobile Super-Apps extrem populär. So gehört in Indonesien die Multi-Service-App Gojek zum absoluten Must-have für Smartphone-Nutzer:innen. Angefangen als Lieferservice auf Motorrollern (einem vergleichsweise schnellen Verkehrsmittel in den verkehrsreichen südostasiatischen Städten), bietet Gojek heute über 20 verschiedene On-Demand-Dienstleistungen ‒ von Fahr- und Kurierdiensten über Massagen bis hin zu Sofort-Lieferungen von Lebensmitteln, Medikamenten, Benzin u.v.m. Bezahlt werden diese Dienstleistungen mit Go-Pay, einem in der App integrierten eigenen Payment-System.
Trend 4: Mobile-Payment-Systeme ‒ Mehr als nur ein Online-Bezahldienst
Diese in den mobilen Apps integrierten Mobile-Payment-Systeme ermöglichen den Anwender:innen eine reibungslose Bezahlung, ohne die App verlassen zu müssen. Die Hürde des Kaufabschlusses wird dadurch enorm reduziert, was zu niedrigeren Abbruchraten beim Checkout führen kann.
Darüber hinaus verfolgen auch die Anbieter mobiler Bezahl-Systeme in Asien die Multi-Service-Strategie und bieten inzwischen umfangreiche zusätzliche Finanzdienstleistungen an. Der weltweite Marktführer in diesem Bereich ist Alipay, der Online-Bezahl-Dienst von Alibaba. Über die App können die Nutzer:innen nicht nur unkompliziert Produkte und Dienstleistungen bezahlen, sondern z.B. auch die Wasser- und Stromrechnung abbuchen lassen, Wertpapiere kaufen und Bankkonten verwalten.
Trend 5: Live Commerce & Co. ‒ Online-Shopping als Erlebnis
Shopping-Apps zum Erlebnisort machen ‒ das ist das große Ziel der führenden asiatischen Tech-Unternehmen wie Alibaba, JD und Pinduoduo. Das wird allein schon dadurch deutlich, dass die Produktdarstellungen auf diesen Plattformen weitaus lebendiger gestaltet sind, als wir es von Amazon oder klassischen Onlineshops im Westen kennen: Zusätzlich zu den Produktfotos gibt es auf chinesischen Shopping-Apps beispielsweise Unpacking-Videos und umfassende Hintergrund-Infos zur Marke. Dabei verbringen Chinesen teilweise bis zu zehn Minuten auf den einzelnen Produkt-Seiten, um sich eingehend zu informieren.
Ein weiteres extrem beliebtes Shop-Feature, das in Asien in den letzten Monaten zum Megatrend geworden ist, ist Live Commerce. Kein Wunder ‒ denn die Livestreams ermöglichen den Händlern einen modernen Kundendialog trotz Lockdown. Die Live-Commerce-Szene reicht von stationären Händlern, die teilweise über Stunden online ihre Produkte präsentieren und live die Fragen der Kund:innen beantworten, bis hin zu Bauern, die ihre Obst-Ernte live im Internet streamen.
Während die westlichen Online-Shopper sich durch Produktkataloge klicken, haben die Asiaten durch den sich immer weiter verbreitenden Live Commerce die Möglichkeit zur direkten Interaktion: Über eine Chat-Funktion im Stream können sie sich untereinander austauschen, Fragen stellen oder sogar die Produkte aktiv mit gestalten. Der Übergang zwischen E-Commerce und Social Media ist hier fließend, das Online-Shopping wird zum interaktiven und emotionalen Erlebnis.
Sind Sie schon neugierig auf weitere Digitalisierungs-Themen aus Asien? Dann lesen Sie auch unseren zweiten Blog-Beitrag zu diesem Thema, in dem wir Ihnen 5 weitere spannende asiatische E-Commerce-Trends vorstellen.